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Die Krise als Chance

Ein Gastbeitrag von Sunita Sklut

Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, war beständig. Ich habe keinen Krieg persönlich miterlebt. Ich habe keinen Hunger erfahren. Keine existenzbedrohende Armut. Nach dem Abitur wurde mir vermittelt, dass mir die Welt offensteht. Dass ich überall hinreisen kann, tun kann, was ich möchte. Gleichzeitig wurden meine Entscheidungen nichtsdestotrotz begrenzt, indem der Weg vorgeben war: Schulabschluss – Studium oder Ausbildung – Festanstellung – Ehe – Familiengründung – berufliche Erfolge – Hauskauf – Rente. Nie war es einfacher zu überleben als heute in den Industrienationen. Die Wirtschaft läuft, es gibt Arbeit, es gibt immer mehr und immer neue Produkte, die Technik und Medizin wird immer besser, alles geht immer weiter, wächst und wächst.

Doch dann geschah das Unvorstellbare: Die Welt kam plötzlich zum Stillstand. Ein äußeres Ereignis, das wir nicht einkalkuliert haben, brachte alles zum Stehen: Das Coronavirus verbreitete sich auf dem ganzen Planeten und wurde plötzlich zur dominierenden Lebensform, die alles, was wir kannten, komplett auf den Kopf stellte. Während es die Gesundheitssysteme und die Mitarbeiter in den sogenannten systemrelevanten Berufen an die Grenzen brachte, sperrte es viele andere in ihre Häuser ein. Firmen stiegen auf Home-Office um, Geschäfte wurden geschlossen, Treffen, Partys und Veranstaltungen verboten.

Die soziale Isolation war schwer für uns, immerhin sind wir soziale Wesen. Doch andererseits haben viele von uns etwas sehr Wertvolles gewonnen: Zeit. Zuvor war unser Leben bestimmt von Arbeit, Stress und Konsum. Diejenigen von uns, die in der Krise nicht mehr oder nur begrenzt arbeiten konnten, verloren all das, doch dadurch erlangten wir eine neue Freiheit. Wir hatten plötzlich Zeit für Kreativität und Freude und Spiritualität und Sport und Kommunikation und um einfach mal durchzuatmen.

Für mich war das eine befreiende Erfahrung. Zum ersten Mal seit Langem konnte ich wieder meine eigenen Gedanken hören. Ich fing an, mich mehr für die Gesellschaft und die Politik und die Zukunft unserer Spezies zu interessieren. Über die großen Ideen kann nur nachdenken, wer sich nicht permanent um den eigenen Lebenserhalt sorgen muss, wer nicht den ganzen Tag lang arbeitet und abends zu erschöpft ist, um einen klaren Gedanken zu fassen. Deshalb wird Politik von den besser gestellten Gesellschaftsgeschichten gemacht. Weil die unteren Schichten, diejenigen, die am meisten von Veränderungen profitieren würden, zu sehr damit beschäftigt sind, sich und ihre Familien am Leben zu halten, um sich zu beschweren.

Während diesem Monat des Stillstands habe ich mich gefragt: Wo könnten wir – als Gesellschaft und Individuen – sein, wenn wir uns nicht ausschließlich darauf konzentrieren müssten, Geld zu verdienen? Wie viele Menschen würden dann endlich die Möglichkeit haben, um sich fortzubilden, wie viele von ihnen würden in die Forschung gehen und was für Entdeckungen hätten sie schon gemacht, die der Menschheit helfen? Wie viele Menschen würden dann tun, was sie lieben, wie viel besser wären sie darin als in dem Job, den sie nur des Geldes wegen machen, wie viel bewegende Literatur und Musik und Kunst wäre bereits daraus entstanden?

Zuwachs an Solidarität und Gemeinschaft

Normalerweise besteht unser Leben aus Arbeit und Konsum. Wie es so schön in Fight Club heißt: „Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.“ Wir arbeiten, um zu überleben. Wir konsumieren, um uns etwas zu gönnen, eine kurzanhaltende Freude. Doch während des Lockdowns wurden die Geschäfte geschlossen, viele Menschen verdienten nun weniger Geld. Beides führte dazu, dass wir nicht mehr so viel konsumieren konnten wie gewohnt. War das wirklich so schlimm? Persönlich kam ich hervorragend ohne den Konsum von nutzlosen Dingen aus. Diese Zeit hat mir gezeigt, dass wir nicht viel benötigen außer Essen, Trinken, soziale Kontakte und vielleicht das Internet. In den meisten Fällen brauchen wir keine neuen Klamotten oder technische Spielzeuge oder sonstige Dinge, die uns normalerweise aufmuntern. Ich hatte nicht einmal das Bedürfnis danach, denn ich hatte bereits mehr, als ich für alles Geld der Welt je kaufen könnte: Zeit für die Dinge und Menschen, die mir etwas bedeuten.

„Von dem Geld, das wir nicht haben, kaufen wir Dinge, die wir nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die wir nicht mögen.“

Während der Krise gab es einen ungeheuren Zuwachs an Solidarität und Gemeinschaft. Menschen halfen einander, sie dachten aneinander und nicht nur an sich selbst. Mir hat das gezeigt, dass wir Menschen in der großen Mehrheit ziemlich anständige Leute sind, die niemanden etwas Böses wollen. Diese Solidarität wird normalerweise unterdrückt vom Geldzwang, vom Wettbewerb und von unseren individuellen Zielen. Doch während der Krise mussten wir zusammenhalten. Und wir haben es gerne getan. Wir sind besser, als wir dachten.

Nun machen die Geschäfte wieder auf, die Wirtschaft wird angekurbelt und die Welt beginnt sich langsam wieder zu drehen. Da ist es einfach, zurück in den Alltagstrott zu verfallen, erneut in den Kreislauf aus Geld verdienen und konsumieren zu geraten – back to business as usual.

Dabei ist genau jetzt die Zeit, um etwas zu ändern. Ich wünsche mir, dass wir auch in Zukunft festhalten an all dem, was wir während dem Stillstand erfahren durften: an dem langsamen Leben, das Zeit lässt zum Denken und Atmen, an unserer Kreativität und Leidenschaft, an Gemeinschaft und Solidarität, an der Erkenntnis, dass wir nicht viel brauchen, sondern uns auf das konzentrieren sollten, was wirklich wichtig ist: Gesundheit, Familie, Spiritualität und Dankbarkeit, am Leben zu sein.

Deshalb möchte ich Euch ein paar Fragen mit auf den Weg geben:

Wie können wir in unserem Leben mehr Zeit für die Menschen und Tätigkeiten schaffen, die uns glücklich machen? Wie können wir unser eines Leben nutzen? Wie können wir einander helfen? Welches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem könnte uns all das ermöglichen?